Alles, was man sich vorstellen kann, ist real
Pablo Picasso

Mit ihrer Eigenschaft, alle Formen annehmen zu können, verfügt Farbe über die einzigartige Fähigkeit, das Reale und das Imaginierte, das Gefühlte und das Gesehene miteinander zu verbinden. Für einen feinfühligen Künstler wie Rudy Cremonini ist Farbe das ideale Medium. Allzu lange wurde die Malerei von vielen in der Kunstwelt ihrer Langlebigkeit wegen beargwöhnt und als verdächtig angesehen. Mit der rasanten Entwicklung der Neuen Medien wurde die Eignung der Malerei, sich auf Themen unserer Zeit einzulassen, in Frage gestellt, ebenso wie ihre Rolle in der zukünftigen Entwicklung der Künste. Doch eben jene Kritiker hatten das wahre Vermögen der Malerei verkannt. Keinem anderen Medium ist es im selben Maße möglich, neue Entwicklungen aufzunehmen und angemessen zu berücksichtigen und dabei das Erbe der Vergangenheit mit den Problemen, die uns heute beschäftigen, zu verbinden. Damit erweist sich die Malerei als eine unserer bedeutendsten Ausdrucksformen.

Dank des Internets verfügen die Maler heute über den größten Datenbestand von Quellenmaterial, der ihnen je zugänglich war. Neben dieser nützlichen Arbeitshilfe, die die meisten Künstler über ihre Notebooks, iPads und Smartphones in ihren Wohnungen und Ateliers nutzen, haben Maler darüber hinaus ein Medium, das diese virtuelle Welt beherrschen und überflüssig machen kann. Das heißt, dass sie zusätzlich zum virtuellen Reich aus ihren Erinnerungen, dem Leben und aus vorgefundenem Material, wie anderen Gemälden oder Fotos, schöpfen können. Malerei hat nicht nur die Mittel, verschiedene Bilder, sondern auch verschiedene Sprachen auf einer Bildebene, einer klar umrissenen Basis, zu verbinden. Ist der Maler talentiert und in seinem Vertrauen unbeirrbar, kann er eine überzeugend glaubwürdige Welt erschaffen, die einzig die seine ist. Diese Welt wird durch die jedem Künstler eigene Art des Farb- und Materialauftrags gestaltet, die seine besondere Vorlieben für bestimmte Formen und Farben wiedergibt. Am ersichtlichsten lässt sich dieser Sachverhalt vielleicht anhand der „Fingerabdrücke“ des Handwerks eines Malers erkennen: seiner Pinselführung. Kurzum, der Künstler kann alles, was er sich vorstellt, wahr werden lassen und etwas erschaffen, das, bevor er seinen Pinsel auf die Leinwand setzte, niemals existiert hatte.

Die Pinselführung und die sichtbaren Spuren des Künstlers auf dem Bild gehören zu den eindrucksvollsten Aspekten der Arbeitsweise Cremoninis. Für jeden, der mit Cremoninis Arbeiten nicht vertraut ist, wird bald deutlich, dass die Pinselführung ein außerordentlich bedeutsames Merkmal seiner Malerei ist. Cremonini ist in erster Linie ein figürlicher Maler, jedoch nimmt sein Talent, die Bildfläche mit Leben zu erfüllen, den selben Stellenwert ein, wie die dargestellten Themen selbst. Wer sich in seine Bilder versenkt, wird auf einen dynamischen Grund treffen, dessen Abstraktion verführt und gefangen nimmt. Cremonini zieht seine Pinselstriche in Farbe, die dick ist wie Karamell, wodurch Spuren entstehen, die oft kreisförmig oder oval sind und sich wie topographische Linien auf einer Karte öffnen. Der malerische Charakter von Cremoninis Arbeit ist äußerst anziehend. Es ist verlockend für den Betrachter, sich in den buttrigen Gründen zu verlieren und in die abstrakte Welt der Spuren und Strukturen gezogen zu werden. 

Das Gleichgewicht zwischen Abstraktion und Figuration ist in Cremoninis Arbeit sorgfältig gewählt, wirkt dabei aber nie gezwungen, sondern immer natürlich. Man sieht hier einen Künstler, der nicht nur gern „Dinge“ malt, sondern die Malerei in ihrer Eigentümlichkeit liebt. Dies zeigt sich deutlich an Cremoninis Freude an der Darstellung von Gegenständen, die sonst als unauffällig oder „gewöhnlich“ eingestuft werden. In der Arbeit dentro in un posto (2013) wird der Betrachter mit etwas konfrontiert, was die Innenseite einer Schachtel sein könnte. Die Darstellung bleibt ambivalent, jedoch offensichtlich mit Absicht. Es ist unmöglich, einen endgültigen Titel für den Gegenstand zu finden, obwohl mehrere Möglichkeiten vom Künstler vorgeschlagen werden. Es könnte das Innere einer Schachtel sein, das Profil eines Hügels – von einer dicken Schneeschicht bedeckt – oder das Innere eines Raumes. Man spürt, dass es nicht darauf ankommt, eine Antwort zu finden. Was wichtig ist, ist der Vorgang und die Erschließung von Möglichkeiten. Sowohl Cremonini selbst als auch dem Betrachter wird dadurch zugebilligt, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Den einen mag es eher nachdenklich stimmen, den anderen dagegen, sich fragend, in die eigenen Erinnerungen und Fantasien vertiefen und dabei vielleicht auf dem Weg ein wenig verirren lassen.

Vieldeutigkeit ist eine der Eigenschaften, die sich durch das ganze Œuvre Cremoninis zieht. Selten ist hier etwas eindeutig bestimmt. Die Gesichter seiner Modelle – ob Mensch oder Tier – sind häufig teilweise oder vollständig unkenntlich gemacht. Auf dem Bild swimming pool party (2013) bewegen sich vier Schwimmer nebeneinander durch das Wasser eines Pools. Ihre Gesichtszüge sind nicht auszumachen, aber sie sehen aus, als ob sie mit dem Wasser verschmelzen würden, wie wenn sie aus demselben Stoff wären. Dieses Gemälde ist ein gutes Beispiel für Cremoninis Fähigkeit, sowohl das Sichtbare, als auch das, was sich unter der Oberfläche verbirgt, zu erfassen. Eben jene verborgenen Kräfte darzustellen, welche man zwar spüren kann, die sich aber nur schwer in Bilder übersetzen lassen. In diesem und anderen kürzlich entstandenen Arbeiten Cremoninis, wie oh my lover! (2012), mit ihren symbolträchtigen, düsteren Bildthemen, ist indessen auch der Einfluss expressionistischer Maler des frühen 20. Jahrhunderts deutlich sichtbar, insbesondere das Werk Edvard Munchs. Wer auf die Aneignung bestimmter Kunstgriffe achtet, wird die wirbelnde Pinselführung, die der Bildoberfläche Struktur und Muster verleiht, die dynamische Verwendung der Farbe und die skizzenhafte Andeutung der Form wiedererkennen. Darüber hinaus ersetzen Reihungen ovaler Ringe, die sich zu Höhlen formen, die Augen und Münder der Dargestellten. Diese Aushöhlungen in den Gesichtern der Figuren, die in swimming pool party dargestellt sind, verleihen ihnen ein totenkopfähnliches Aussehen, was die Frage aufwirft, ob der Künstler dem eine absichtsvolle und symbolische Bedeutung beimisst. 

Auch di niente (2012) greift die Malerei des letzten Jahrhunderts auf. Durch die Frisur und Kleidung der dargestellten Frau, dem unheimlich anmutenden Thema (die Frau scheint ein Baby im Arm zu halten, tatsächlich ist es aber nur eine leere Decke) und die Art der Verwendung der Farbe bei der Gestaltung ihres Gesichts werden Erinnerungen an das Werk Edvard Munchs wach. Munch, aber auch Gustav Klimt, Egon Schiele und die Expressionisten insgesamt (die vor allem eine nordeuropäische Bewegung waren) machten von symbolischen Verweisen in ihren Werken regen Gebrauch. Sie waren zutiefst betroffen von der unruhigen Zeit in der sie lebten, vor allem von den verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und der Grippeepidemie von 1919. Daher wundert es kaum, dass ihr feines Gespür für Schmerz und Leid in ihren Werken allgegenwärtig zu finden ist.

Auch wenn Cremonini, ein ganzes Jahrhundert später, nicht dem Grauen ausgesetzt wurde, das die Expressionisten erlebten, musste er dennoch die wachsende politische und wirtschaftliche Destabilisierung seiner italienischen Heimat und der Europäischen Union erleben. Er wurde Zeuge der Auswirkungen der globalen Finanzkrise, der Folgen der Anschläge des 11. Septembers und den daraus resultierenden Nachwirkungen, die sich in den Konflikten des Nahen Ostens äußern. Teils wegen dieser erhöhten Spannungen, der sich verändernden geopolitischen Situation und der globalen Wirkung, der steilen ökonomischen Entwicklung der BRIC-Staaten und anderer Nationen, die zuvor für den Weltmarkt nur peripher gewesen waren, scheint Europa heute ein ganz anderer Ort zu sein als zu der Zeit, als Cremonini und die anderen Künstler seiner Generation aufwuchsen. Es ist nicht abzustreiten, dass die Folgen der rasanten Entwicklung in Europa, ausgelöst durch das Aufkommen der sich schnell entwickelnden Technologien und der sozialen Medien, zusätzlich zu den Folgewirkungen des sogenannten „Krieges gegen den Terror“ und der Globalen Krise, sich stark auf die Künstler auswirken, die heute arbeiten. Besonders deutlich wird dies in den Arbeiten der jungen figürlichen Maler, die ihre Themen oft aus dem Alltäglichen und der jüngeren Geschichte beziehen. Wir sehen es im Werk von Malern wie dem Ungarn Zsolt Bodoni, dem Tschechen Daniel Pitin, dem Rumänen Serban Savu und dem Briten Justin Mortimer. So wie sie ist auch Cremonini in der Lage, seine Darstellungen mit Pathos und Drama zu durchziehen und, wie bereits erwähnt, sowohl das, was unter der Oberfläche fühlbar ist, als auch das Sichtbare bloßzulegen. 

Nirgendwo sonst drückt sich die Vorstellung des „Darunterliegenden“ besser aus als in der Serie der „Wasser“-Bilder. Auf mani nell‘acqua (2013) sehen wir ein Paar Hände, deren Fingerspitzen in einem Wasserbecken verschwinden. Es ist nicht klar, ob die Hände gerade in das Wasser getaucht oder herausgezogen werden. Die Hände könnten auf eine „Reinigung“ oder selbst eine „Taufe“ hindeuten. Aber seit den Geschehnissen um Pontius Pilatus, wie man sie in der Bibel aufgezeichnet findet, ist die Handwaschung zum Inbegriff für Betrug und fehlendes Bekenntnis zu dem, woran man glaubt, geworden.

Eine noch düsteren Arbeit der „Wasser“-Serie, in acqua (2013), spielt auf das Versinken in eine noch dunklere Stätte an. Auch dieses Bild ist mehrdeutig. Einerseits gibt es Hinweise darauf, dass die Gestalt sich an eine düstere Unterwelt verloren hat oder mit etwas Unheimlichen behaftet ist. Andererseits könnte es aber auch sein, dass die Gestalt ihr Gesicht zur Tarnung geschwärzt hat, um sich zu verstecken und unbemerkt zu bleiben. In Cremoninis „Wasser“-Serie scheint immer eine dramatische Spannung vorzuherrschen. Die Arbeit baby don’t see! (2013), die im Zusammenhang mit mani nell‘acqua einen starken erzählerischen Charakter entwickelt, lässt zum einen eine Art Verheißung auf Erlösung erkennen, aber andererseits entwickelt sie eine suggestive Kraft des „Nicht-Sehen-Wollens“. Darüber hinaus wird die Versuchung durch etwas dunkel Verführerisches angedeutet, dem ein Verlangen, sich zu verstecken und zu verhüllen, um ungesehen zu bleiben oder zu verschwinden, entgegensteht. Was tatsächlich geschieht, ist unklar. Die Fragen tauchen auf, doch die Antworten bleiben offen. Das Aufwerfen von Fragen, die zu keinen bestimmten Antworten führen, ist ein festes Charakteristikum der Arbeit Cremoninis. Worin auch immer die Antwort bestehen mag, offenkundig ist, dass die übergeordnete Frage nach dem Überleben im Zentrum steht. Was muss ich tun, um zu überleben? Suche ich Vergebung und Erlösung? Gehe ich weg und entscheide, den Status quo nicht infrage zu stellen? Gebe ich dem Sog der Unterwelt nach? Oder verstecke ich mich in den Nischen der Dunkelheit? Die Suche nach dem Überleben und das Eintauchen in Farbe als ein Mittel, einen sicheren Platz zu erreichen, ist die leitende Idee, die die Richtung von Cremoninis Arbeiten vorgibt.

Häufig wird die Natur in Cremoninis Gemälden abgebildet. Paesaggio cangiante (2013) konfrontiert den Betrachter mit einer lockeren, dennoch zart gemalten, üppig bewachsenen grünenden Insel, einer abgelegenen Oase, die sich dunkel gegen den blassen Hintergrund abhebt. Auf anderen Arbeiten sehen wir Tiere, wie zum Beispiel Pferde (cavallo bianco, 2013), Vögel oder, im Sinne einer unheilvolleren Wendung, finstere Gestalten, die anfangs an Tiere erinnern, jedoch unbestimmbar hinsichtlich ihrer Form bleiben. Tatsächlich sieht die dunkle Gestalt auf tank (1) (2012) auf den ersten Blick wie eine bösartige Kreatur aus, die schwebend, in Lauerhaltung, darauf wartet, ihr Opfer zu attackieren oder anzufallen. Wie es der Titel jedoch nahelegt, handelt es sich in Wirklichkeit um eine unbelebte Kriegswaffe. Es ist möglich, viel Symbolik und viele Metaphern in Cremoninis Arbeiten hineinzudeuten und im Falle von tank (1) ließe sich die Form als Stellvertreter für den Tod selbst interpretieren. Und tatsächlich, die Vorstellung des Todes, der still aber wissend auf sein Chance lauert, ist ein wiederkehrendes Thema bei Cremonini. Manchmal spielt er mithilfe dunkler Hintergründe und nächtlicher Szenen auf den Tod an, dann wieder durch totenkopfartige Gesichter und Knochen, die die Haut seiner Figuren zu durchstoßen scheinen, auf eine Art entgegen aller Sehgewohnheiten – und die auf diese Weise als memento mori dienen.

Frauen kommen in Cremoninis Werk kaum vor. Bisweilen taucht das Thema der Mutter mit dem Kind als eine Interpretation des die Kunstgeschichte durchziehenden Topos „Maria mit dem Kind“ auf. Jedoch ist es bezeichnend, dass, wie wir weiter oben bei di niente gesehen haben, die Mutter ihrem geliebten Kind nicht ins Gesicht blickt, sondern eine leere Decke anlächelt – wieder eine Metapher für den Tod, der in diesem Fall als Frau dargestellt wird. Es ist die männliche Gestalt, die in der Mehrzahl der Bilder im Zentrum von Cremoninis Aufmerksamkeit steht. Manchmal wird der Mann dargestellt bei körperlicher Tätigkeit, zum Beispiel beim Fechten auf dem Bild la mira (2012). Oft jedoch werden die männlichen Figuren nackt dargestellt, mal allein, mal als Paar. Die Erotik ist zwar verborgen, aber dicht unter der Oberfläche. Einige der Bilder lesen sich wie Enthüllungen, wie die Geständnisse von geheimen, sogar sozial inakzeptablen Wünschen wie in dem Bild twins desire (2013). Während wir anfangs glauben, ein nacktes Paar männlicher Liebender zu sehen, entdecken wir, dass es sich tatsächlich um Zwillingsbrüder handelt. 

Auch wenn die Themen und Inhalte überraschen, meidet Cremonini doch das Unverhohlene und Brutale. Stattdessen verwendet er seine verführerische und oftmals zarte Malweise eher, um anzudeuten, als zu behaupten. Auf diese Weise erreicht er, dass der Betrachter in seine Welt gezogen wird. Er macht ihn zu einem Teil von ihr, statt ihn zu schockieren und zu befremden. Von den heiklen für die Darstellung ausgewählten Gegenständen wie scultura su fondo rosso (2013), die auf verblüffende Weise heruntergespielt werden und beinahe unscharf sind, bis zu den dunkleren, hoch aufgeladenen Szenarien wie den beängstigenden Landschaften und häuslichen Szenen voll erotischer Spannung hinterfragt Cremonini den geltenden Status quo und fordert den Betrachter heraus, es ihm gleich zu tun. 

Einige der Gegenstände und Szenarien, die er wiedergibt, sind zweifellos aus der Fantasie geschöpft. Dennoch belebt er sie, macht sie zu einer Wirklichkeit, die nicht nur vage plausibel, sondern überzeugend glaubhaft ist. Picasso hat gesagt: „Alles, was man sich vorstellen kann, ist real.“ In Cremoninis Bildern finden wir die Wirklichkeit, die wir erkennen, und darüber hinaus oft andere Wirklichkeiten, die wir noch nicht gekannt, aber imaginiert oder gefühlt haben. Letzteres erkennen wir vielleicht nur vor unserem geistigen Auge an und bewahren es für unsere geheimen Gedanken, aber es findet Widerhall, wenn wir es in Farbe ausgedrückt sehen. Einmal beschrieben, wird es zu einem Anhaltspunkt, so wie ein archäologischer Fund, der ein neues Licht auf eine untergegangene und vergessene Welt wirft und nach einer neuen Einschätzung verlangt. Sind das Verborgene und das Offenliegende einmal verbunden, wird etwas Machtvolles freigesetzt. Zwar muss es nicht auf aggressiv mutige Weise verkündet werden, aber es erfordert eine innere Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen und Handeln und Denken in Übereinstimmung zu bringen. Kurzum, es geht um den Zusammenstoß von zwei Welten und den Beginn der Erschaffung einer neuen. Diese Welt ist ein Ort, an dem Ehrlichkeit eine Form finden kann – auch wenn sie als vorsichtige Erkundung beginnt – und an dem Angst und Lust nicht für immer versteckt und verdrängt bleiben müssen. Es ist eine freie Welt, ein Platz, an dem Ausdrucksformen geübt werden können – ein Platz, wo das Leben neu beginnen und wo alles Wirklichkeit werden kann.

( Text: Jane Neal )
( Übersetzung Text: Barbara Handke / Ulrich Imo )